ZMT Studie: Meinungen im sozialen Umfeld prägen die Wahrnehmung gesellschaftlicher Spaltung
Gehen die Meinungen zu umstrittenen politischen Themen tatsächlich so stark auseinander, wie viele Menschen es wahrnehmen? Mit dieser Frage haben sich Forschende des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen, des Complexity Science Hub (CSH) in Wien und der University of California Merced in einer sozialwissenschaftlichen Studie beschäftigt, die kürzlich in PNAS Nexus erschienen ist.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass sich die Gesellschaft immer stärker in gegensätzliche Lager spaltet und sich ideologische Gräben zunehmend vertiefen – etwa bei wichtigen Themen wie Gesundheit, Migration oder Klimawandel. Vor diesem Hintergrund haben frühere wissenschaftliche Studien versucht zu quantifizieren, inwieweit die Meinungen tatsächlich voneinander abweichen – oft mit widersprüchlichen Ergebnissen.
In ihrer neuen Arbeit gehen Peter Steiglechner (ZMT, jetzt am CSH), Agostino Merico (ZMT) und Paul E. Smaldino (University of California Merced) der Frage nach, wie belastbar und realistisch die weitverbreitete Wahrnehmung von gesellschaftlicher Polarisierung ist. „Wenn es um politische Streitfragen geht, haben wir häufig den Eindruck, dass die Menschen in unserem direkten Umfeld – wie Familie, Freund:innen, oder politisch Gleichgesinnte – ziemlich ähnliche oder sogar sich annähernde Meinungen haben. Trotzdem haben wir manchmal das Gefühl, dass unsere Gesellschaft zunehmend auseinanderdriftet. Dieses unangenehme Gefühl muss aber nicht immer unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen“, sagt Erstautor Peter Steiglechner.
Neue Methode zur Unterscheidung von wahrgenommener und tatsächlicher Polarisierung
Während sich frühere empirische Arbeiten zu gesellschaftlicher Polarisierung auf objektive Messungen der Meinungsdivergenz konzentrierten, stellen die Wissenschaftler in dieser neuen Studie einen Weg vor, um tatsächliche von subjektiv wahrgenommener Polarisierung in Meinungsdaten zu unterscheiden.
Um die Mathematik hinter der Methode intuitiv zu veranschaulichen, führen die Wissenschaftler die Metapher einer politischen „Linse” ein – ein hypothetisches Instrument oder Blickwinkel, durch den Individuen Meinungen bewerten. Diese subjektive „Linse“ spiegelt die Bandbreite der Meinungen innerhalb des eigenen sozialen Umfelds wider. „Je breiter die Meinungen zu einem bestimmten Thema gestreut sind, desto ‚dicker‘ die Linse und desto geringer wird gesellschaftliche Polarisierung zu diesem Thema wahrgenommen“, erklärt Steiglechner „Je geringer die Meinungsstreuung im eigenen Umfeld, also je ‚dünner‘ die Linse ist, desto stärker wird Polarisierung empfunden.“
Peter Steiglechner: "Meinungsdaten aus der Europäischen Sozialerhebung deuten darauf hin, dass der Grad der Uneinigkeit unter den deutschen Bürgern in Bezug auf Fragen zum Klimawandel von 2016/2017 bis 2021 und weiter bis 2023 zugenommen hat. Dies ändert sich jedoch erheblich, wenn wir davon ausgehen, dass sich die Linsen an die Verteilung der Meinungen in den inneren Kreisen der Menschen anpassen. Unsere Methode deutet darauf hin, dass die insgesamt wahrgenommene Uneinigkeit ganz anders sein könnte, als es die reine Meinungsdivergenz anzeigt (blaue Pfeile): Sie war 2021 größer und 2023 viel kleiner (rote Pfeile)." Grafik: © ZMT/CSH
Einigkeit im Umfeld lässt Polarisierung größer erscheinen
Subjektive, politische Linsen verändern sich über die Zeit, und diese Dynamik kann entscheidend beeinflussen, wie eine Person Polarisierung wahrnimmt. Die Resultate der Studie zeigen, dass die wahrgenommene Polarisierung sogar ebenso stark von der Dynamik von Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Identitätsgruppen (und damit der Linse) abhängen kann wie von den tatsächlichen Meinungsunterschieden in der breiteren Gesellschaft.
„Anders gesagt: Je größer der Konsens in meinem sozialen Umfeld zu einem Thema wie etwa dem Klimawandel wird, desto stärker nehme ich vermutlich eine Polarisierung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene zu diesem Thema wahr – und umgekehrt“, erklärt Agostino Merico, Co-Autor der Studie. Da diese Dynamik in den verschiedenen politischen Gruppen unterschiedlich verläuft, kann auch die Polarisierung, die diese Gruppen wahrnehmen, stark variieren. „Letzten Endes sind sich die Menschen nicht einmal unbedingt darüber einig, wie gespalten sie sind oder in welchen Fragen sie auseinanderdriften oder nicht“, schließt Peter Steiglechner.
Ideologische Polarisierung – mehr als nur Wahrnehmung
Die Studie bietet eine neue Perspektive zur Bewertung und Messung des Ausmaßes von Polarisierung, so die Autoren. „In Zeiten, in denen zunehmende Polarisierung mit gesellschaftlich oder politisch disruptiven Entwicklungen wie dem Rückgang des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder dem Aufstieg autoritärer Tendenzen einhergeht, ist es wichtig, die sozialen und psychologischen Mechanismen hinter diesen Phänomenen zu verstehen“, betont Paul Smaldino, weiterer Co-Autor der Studie.
Peter Steiglechner fasst zusammen: „Gesellschaftliche Polarisierung – oder deren Wahrnehmung – beeinflusst politische Entscheidungsprozesse bei Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungskrisen oder Umweltschutz und kann die Suche nach Konsens und die Umsetzung von Lösungen im demokratischen Prozess erschweren. Unsere Studie zeigt, dass ein Wandel der Wahrnehmung entscheidend ist, wenn wir Polarisierung reduzieren wollen.“
Publikation:
P. Steiglechner, P.E. Smaldino, A. Merico (2025) How opinion variation among in-groups can skew perceptions of ideological polarization, PNAS Nexus, Volume 4, Issue 7, July 2025, pgaf184, DOI: https://doi.org/10.1093/pnasnexus/pgaf184
Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Schwerpunktprogramms "Meeresspiegel und Gesellschaft" gefördert